Auf dem Weg zur Patina

29.11.23

Als ich hier im September einige ausgewählte Mängelexemplare zum Verkauf anbot, waren die Gründe vor allem praktischer Natur. Ich sortierte mein Lager und wollte ein wenig  Platz schaffen. Doch dann war die Resonanz auf diese Aktion so groß, dass es mich nachdenklich stimmte. Warum waren innerhalb weniger Tage alle Stücke verkauft, obwohl keines davon mehr fehlerfrei war? Lag es wirklich nur am reduzierten Preis? Ich glaube nicht. 

Wie es der Zufall will, hat mich die Ausübung meines anderen Berufs zuletzt in Kontakt mit der Welt des Geigenbaus und des Geigenhandels gebracht. Mein nächstes Buch handelt von der – fiktiven – Europareise eines alten Cremoneser Streichinstruments. Doch was hat das mit den Mängelexemplaren aus dem Hause Leo&Leo zu tun? Eine Jacke ist ja keine Hose, eine Birne kein Apfel und eine Schatulle keine Geige. Doch es gibt ein paar Gemeinsamkeiten.  Beide Gegenstände erfordern höchst präzise Tischlereiarbeit, beide sind zum Gebrauch bestimmt. Und in beiden Fällen kann das Alter die Faszination des Anblicks, den diese feinen Holzgegenstände bieten, erhöhen. Nicht nur die Form, das Material und die Güte des Handwerks, auch die  Spuren des Gebrauchs tragen zu ihrer Wertschätzung bei. 

Bei einer Stradivari leuchtet das sofort ein. Schließlich handelt es sich bei den Vorbesitzern oft um weltberühmte Virtuosen. Wer würde nicht gerne glauben, dass dieser  Kratzer von Yehudi Menuhin stammt? Interessanterweise folgt aber auch der hochwertige Neubau dieser Logik. In einem letzten Arbeitsschritt tragen die besten Geigenbauer in den frischen Lack gerne ein sogenanntes Abnutzungsmuster ein. An der Klangqualität ändert sich dadurch nichts, sehr wohl aber an der Ausstrahlung des Instruments. Die meisten Kunden jedenfalls wünschen sich diese künstlichen Spuren des Alters sogar.

Könnte es sein, dass es bei Schatullen gar nicht so anders ist? Bisher hatte ich immer gedacht, und es in vielen Verkaufsgesprächen auch gesagt, dass unsere Modelle den Vergleich mit einem antiken Stück nicht zu scheuen brauchen. Im Gegenteil, handwerklich bieten moderne Werkzeuge sogar Möglichkeiten, die einem Kunsttischler der Goethezeit schlicht nicht zu Gebote standen. Aber ich habe immer hinzugefügt, dass sie in einer Hinsicht einer echten Biedermeierschatulle hoffnungslos unterlegen sind: Die Patina einer Antiquität lässt sich nicht künstlich erzeugen.

Aber vielleicht besteht ja der erste Schritt zur Aura des Alters in nichts anderem als den sogenannten Mängeln. Erst diese kleinen Spuren sind es doch, die dem Einzelstück eine Geschichte geben. Es muss ja nicht immer der Brandfleck von Paganinis Zigarre sein. Manchmal reicht schon die hauchzarte Prägung, die das Packpapier – kaum sichtbar – auf einer frischen  Schellackoberfläche  hinterlassen, die etwas weniger zarte Narbe, durch die sich das Messer eines Zollbeamten auf der Rückseite einer Schmuckschatulle verewigt, oder die  kleine Delle, die eine herunterfallende Lackdose dem großen Bruder aus Holz zugefügt hat.

Was negativ Mangel heißt, neutral Spur, das bezeichnen wir positiv als Individualität. Dass aber immer das Gleiche gemeint ist, hat vielleicht niemand so schön auf den Punkt gebracht wie der Soziologe Georg Simmel, auch wenn es ihm weder um Geigen, noch um Schatullen, sondern um Menschen ging. »Wir sind alle Fragmente«, schrieb er vor über 100 Jahren, am Ende des bürgerlichen Zeitalters, »nicht nur des allgemeinen Menschen, sondern auch unserer selbst. Dieses Fragmentarische aber ergänzt der Blick des Andern zu dem, was wir niemals ganz und rein sind.« Fragment bedeutet wörtlich: Bruchstück.

Wie immer heißt es an dieser Stelle: Bühne frei… Und auch heute möchte ich Sie natürlich einladen, ein wenig auf unserer Seite zu stöbern. Da ich im Herbst aber einige besondere Mängelexemplare für die Weihnachtszeit zurückgehalten habe, gewissermaßen als Christmas Specials, soll heute das letzte Wort heißen: Fragmente dieser Welt, fügt euch zusammen

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