Von Hagen nach Tromsø
27.11.24
Der alljährliche Text, der – wie immer am Vorabend meiner Abreise ins Freilichtmuseum Hagen – die Schrecken des Weihnachtsmarktes in ein trügerisch mildes Licht tauchen soll, war in diesem Jahr bereits geschrieben. Völlig ungeplant hatte er sich mitten im Sommer in meinen Roman eingeschlichen, und zwar an einer nicht ganz unbedeutenden Stelle: der Rückblende, ohne die unverständlich bliebe, warum das Leben der Protagonistin vor vielen Jahren eine romanwürdige Wendung nahm. Dass die Geschichte in der Eismeerkathedrale von Tromsø endet (Foto), steht bereits fest. Über die Vorgeschichte habe ich hingegen mit der Lektorin noch nicht gesprochen. Vermutlich wird sie die Passage ersatzlos streichen und darauf bestehen, die Romanfiguren künftig nicht mehr mit dem Leben des Autors zu behelligen. Und ich könnte es ihr nicht einmal verdenken. Damit es jedoch nicht ganz umsonst geschrieben wurde…
Vorhang auf.
»ES WAR KALT. Die Schatullen aber strahlten in einem tiefen, zwischen Heidehonig und Wüstensand changierenden Gelb: einer warmen, anziehenden Farbe, die Vera sehr vertraut war. Ganz ähnlich, nur etwas rötlicher, sahen auch Streichorchester bei Konzertbeleuchtung aus. Sie trat an den Stand. Ohne Blickkontakt, trotzdem sprach der Verkäufer sie an.
›Kann ich Ihnen helfen?‹
›Danke, ich schaue nur.‹
›Bitte, gerne.‹
Vera strich mit den Fingerspitzen über das Holz. Die gespeicherte Kälte ließ vermuten, dass sie eine Schelleckpolitur berührte; auch der Glanz und die Tiefe der Maserung sprachen dafür. Sie nahm ein Kästchen, öffnete den Deckel und roch an der Schnittkante. Wer mochte es gebaut haben? An der Rückwand des Standes befand sich eine kleine Werkbank. Schraubzwingen, Stemmeisen, Holzleim, ein Regalbrett mit Fläschchen und Dosen. Sicher wurde hier der eine oder andere Handgriff verrichtet. Aber Vera ahnte, dass die Hände des Verkäufers mit der Herstellung nichts zu tun hatten.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich ein Paar dem Stand näherte und neben ihr stehenblieb. Gepflegte Kleidung, freundliche Ausstrahlung, aber ohne jede Eleganz.
›Die sind schön‹, sagte die Frau.
›Na ja. Wo’s hinpasst.‹
›Du bist blöd. Die sind wirklich schön.‹
Der Mann wandte sich mit Kennermiene an den Verkäufer.
›Alt oder neu?‹
Nicht, dass es Vera überraschte. Aber die Blindheit der Leute war wieder mal kaum zu fassen. Die Schatullen waren so frisch wie die Tüte mit gebrannten Mandeln, aus der die beiden wie ferngesteuert aßen. Nur der Stil war antik. Geschickt hatte der Tischler ein Vollholz, das an Kirsche erinnerte, den zarten Maserpunkten und dem Harzgeruch nach aber eher von einem seltenen Nadelgewächs stammte, so mit schwarzen Bandintarsien versehen, dass der Gesamteindruck fast schon aufdringlich klassisch anmutete. Der Verkäufer leugnete es auch gar nicht.
›Schauen Sie, wenn es Antiquitäten wären‹, sagte er mit dozierendem Unterton, ›würden sie das Fünffache kosten. Aber glücklicherweise sind die Stücke nicht antik, sondern großartige Kopien. Biedermeierrepliken. Das Beste, was die Kunsttischlerei gegenwärtig zu bieten hat.‹
Der Mann nickte sachverständig.
›Ja, klar. Und was wäre dann das Fünftel so eines Antiquitätenpreises?‹
›Das verrate ich Ihnen gleich. Aber vorher zeige ich Ihnen, was das hochwertige Neue dem Alten immer voraus haben wird. Schauen Sie mal.‹
Er öffnete eine Schmuckschatulle und zeigte auf den hinteren Rand.
›Sehen Sie? Versenkte Scharniere. Hauchdünner Schlitz. Man sieht nur das Gelenk. Bei Beschlägen gilt immer: Je unsichtbarer, desto besser. Aber die dezente Optik ist das eine. Genauso wichtig ist der Platz, den man auf der Kantenfläche gewinnt. Nun können Sie nämlich die Naht von außen mit einer Oberfräse anschneiden. Und was passiert? Schauen Sie – der Deckel steht bei neunzig Grad. Ganz von selbst. Kein Halteband, kein Winkelsteller. Einfach nur gutes Handwerk. Und Werkzeuge, von deren Schärfe und Präzision man in der Goethezeit nicht mal träumte.‹
Der Preis war noch gar nicht ausgesprochen, da wusste der Mann schon, was seine Frau zu Weihnachten bekommen würde. Er legte seinen Arm um sie.
›Hol‘ uns doch mal zwei Glühwein, ja?‹
Der Verkäufer sah das Augenzwinkern des Gatten. Die Gattin sah das komplizenhafte Lächeln des Verkäufers. Und so ging sie, wie befohlen und mit zur Schau gestellter Ahnungslosigkeit, rüber zum Stand mit der quellenden Dampfwolke, während die beiden Männer nüchtern die Zahlungsdetails klärten.
Vera spürte, wie ein Brechreiz in ihr aufstieg. Nichts von dem, was sie da gerade beobachtet hatte, ließ sich ernsthaft beanstanden – außer alles. Die Stücke waren von solider Qualität. Der Verkäufer wusste, was er tat. Der Kunde hatte ein Problem weniger. Seine Frau bald einen schönen Gegenstand mehr. Doch ihr Röntgenblick erkannte in dieser kleinen Marktszene all die ungeschriebenen Regeln und unerbittlichen Gesetze wieder, an denen sie selbst als Geigenbauerin gescheitert war: die Strahlkraft einer Ware, in deren Schatten andere Waren verblassten; den Würgegriff des Historischen, das Neues nur atmen ließ, wenn es sich antik gab; die Geschmeidigkeit eines Verkaufsakts, der aus der Funktionsbeziehung von Angebot und Nachfrage ein Ereignis und aus der Begegnung von Händler und Kunde ein Erlebnis machte; die Lust, mit der Menschen Geld ausgaben, nur um ihre Stimmung zu heben.
Weil er die Schwächen der anderen für korrigierbar hielt, die eigenen jedoch für schicksalhaft, war dieser Blick aber auch ungerecht. Sonst hätte Vera vielleicht erkannt, dass ihre Abscheu nicht nur von einem Gegensatz herrührte, sondern auch von einem Mangel. Denn wo stand sie, die schweigsame Produzentin erstklassiger Neubauten, inmitten des geschwätzigen Kults um das auratische Alte? Auf verlorenem Posten. Diffus war ihr das seit langem klar. Doch an diesem Abend im Advent nahm der Feind auf einmal Gestalt an.
Der Verkäufer hatte gerade die vereinbarte Anzahlung in die Hosentasche gesteckt, als Vera einen Schritt zurück trat und ihm ins Gesicht sah. Sie erschrak.«
Vorhang zu.
Aber damit alles beim Alten bliebt, muss es an dieser Stelle natürlich trotzdem wieder heißen: Bühne frei…