Schellack

Hört man heute das Wort »Schellack«, fühlt man sich unwillkürlich an Dinge von gestern erinnert. Ob man dabei zuerst an Antiquitäten denkt, besonders aus dem Biedermeier, oder an die dicken schwarzen Platten, die auf dem Grammophon gespielt wurden – Schellack ist ein Inbegriff des Alten. Dabei war er lange Zeit modern wie kaum ein anderer natürlicher Werkstoff. Als sich um 1800 die Nachfrage nach edlem Mobiliar von den Höfen ins Bürgertum ausbreitete, wurde die Schellackpolitur zu einem Symbol des wachsenden Wohlstands. Und als 100 Jahre später das Zeitalter der akustischen Speichermedien anbrach, lag das auch daran, dass mit Schellack endlich ein Material gefunden war, mit dem sich Schallplatten von markttauglicher Klangqualität und Haltbarkeit herstellen ließen. Zur gleichen Zeit wurden überall in Europa und Amerika vielstöckige Mietshäuser für die rasant wachsende Stadtbevölkerung gebaut – und womit bohnerte man allwöchentlich die vielen neuen Treppen? Mit Schellack natürlich.

Doch die Moderne erlaubte sich fortzuschreiten. 1902 erfand Carl Heinrich Meyer das Phenol-Formaldehydharz, den ersten Lack auf synthetischer Basis. Den Rest erledigte Amerika. Als Anfang der 1920er Jahre Nitrolacke produktionstauglich wurden, war damit nicht nur Henry Fords Bonmot hinfällig, er könne Autos in jeder Farbe liefern, solange es Schwarz sei; auch Möbel konnten nun schnell und kostengünstig mit robusten Oberflächen überzogen werden. Und dann wurde da noch ein Material entwickelt, ohne das die Beatles außerhalb Englands vermutlich ein Geheimtip geblieben wären, auch wenn sein Name heute genauso veraltet klingt wie der seines Vorgängers: Vinyl.

Um zu verstehen, warum die Entwicklung der Kunstharze ein so großer Einschnitt war, muss man wissen, dass die Produktion eines Kilogramms Schellack die Züchtung von ca. 300.000 Läusen erfordert. Sie haben richtig gelesen: Läuse. Milliarden von Läusen. Schellack ist ein Naturharz – aber ein besonders edles. Denn auch die Natur versteht sich ja auf Chemie. Kerria lacca, so heißt das Tierchen, ernährt sich von Baumsaft, den sie im Verdauungsprozess aufspaltet und als reines, schnell aushärtendes Harz wieder ausscheidet, um darin ihre Eier abzulegen. Kratz man dieses Harz von den Ästen, wäscht es aus, schmilzt es bei 140 Grad, gießt es zum Trocknen aus, bricht es in kleine Plättchen und füllt es ab, nennt man das so entstandene Handelsprodukt Schellack. Verständlich, dass unter diesen Umständen die Entwicklung synthetischer Harze begrüßt wurde. Von der Schallplattenindustrie natürlich. Aber vielleicht noch mehr von den Möbelherstellern, denn nun konnten die begehrten durchsichtigen Lackoberflächen gespritzt werden.

Nicht so Schellack, der in Alkohol gelöst und dann mit einem Stoffballen von Hand poliert wird. Viele Male, bei Nutzflächen wie einer Tischplatte in über 30 Schichten. Jede Schicht muss trocknen und vor dem Weiterpolieren angeschliffen werden. Während des gesamten Prozesses ist die entstehende Oberfläche empfindlich wie ein rohes Ei. Eine Politur lässt sich nämlich nur flächig anlegen, egal wie klein der Schaden ist, er lässt sich nicht lokal reparieren.  Ein Tropfen Alkohol, ein kleiner Kratzer, ein einpoliertes Staubkorn, und die ganze Prozedur geht von vorne los. Wenn also die Herstellung von Schellack aufwendig ist, dann ist es die Verarbeitung erst recht. Weiß man außerdem, dass synthetische Harze auch beliebig färbbar, deutlich kratzfester und beständiger sind, wird man sich fragen, warum heute überhaupt noch jemand auf die Idee kommt, Holzoberflächen mit Schellack zu polieren. Die Antwort klingt verrückt: Es sieht unvergleichlich gut aus.

Ein synthetischer Klarlack, und sei er noch so fein aufgetragen, wirkt wie eine dünne Glasscheibe. Schellack dagegen, und seien es noch so viele Schichten, verbindet sich mit dem Holz, als sei es eine durchsichtige Haut. Und er schafft einen Anblick, den das Material nicht freiwillig preisgibt: die Maserung. Die Eigenschaft, deretwegen wir Holz nicht nur einen fast unerschöpflichen Gebrauchswert, sondern auch Schönheit attestieren, ist unter der Rinde verborgen. Beim roh geschnittenen Brett ahnt man sie kaum. Geschliffen sieht sie aus wie eine Musterskizze. Leinöl haucht ihr Leben ein. Doch erst der Schellack macht aus dem Bild ein Gemälde. Schon die erste Schicht schärft die Konturen, die Farben und Kontraste der Holzstruktur, und jede weitere fügt dem Anblick Tiefe hinzu. Am Ende eines langen Arbeitsprozesses hat der eine natürliche Werkstoff sich den Charakter eines anderen anverwandelt: eine Schellackoberfläche zeigt nämlich nicht nur das Innerste einer Holzart, es erinnert auch an geschliffenen Stein. Doch weil die natürliche Farbe des Schellacks orange ist, und weil Holz doch Holz bleibt, ist der Eindruck viel wärmer.