Urushi

Wenn Japaner von »Urushi« sprechen, ist es nicht falsch, das mit »Lack« zu übersetzen. Doch es gibt einen bedeutenden Unterschied. Unser Wort »Lack« ist eine Sammelbezeichnung für flüssige, an der Luft aushärtende Materialien, die um des Schutzes und der Verschönerung willen aufgetragen werden. Aus unserer Perspektive ist Urushi ein Lack unter anderen, den wir darum umgangssprachlich auch Japan- oder Chinalack nennen. Im Japanischen aber ist damit etwas Bestimmtes gemeint, also nicht ein Lack, sondern der Lack: jenes Material, das seit Jahrtausenden aus dem Saft des Lackbaums gewonnen wird. Zwar kann Urushi auf viele Arten verarbeitet werden, aber seine Eigenart bleibt immer unverwechselbar. Um es mit einem Vergleich zu sagen: Wenn »Lack« auf Deutsch so abstrakt klingt wie »Pflanze« oder »Jahreszeit«, und »Japanlack« so kataloghaft wie »Edelgewächs« oder »Badespaß« – dann klingt »Urushi« auf Japanisch so sinnlich konkret wie »Kirschbaumblüte« oder »Erster Schnee«.

Die Einzigartigkeit von Urushi ist im Westen schon früh bemerkt worden. Die ersten fernöstlichen Lackarbeiten kamen mit Marco Polo nach Europa. Sie wurden bewundert, weil sie etwas Neues boten: eine harte Oberfläche, die das darunterliegende Material verbirgt. Färben ist eben etwas anderes als Lackieren. Ein farbiges Tuch bleibt erkennbar und fühlbar Tuch; bei einem angestrichenen Haus weiß der Betrachter auf den ersten Blick, ob es aus Holz oder Stein gebaut ist; und aushärtende Überzüge kannte man bis dahin nur als durchsichtigen Firnis, meist auf der Basis von Leinöl oder Schellack. Eine gute Lackoberfläche ist aber nicht nur eine Schutzhülle, sie stellt selbst etwas dar. Denn der Lack ist die Hauptsache, nicht der Körper, auf den er aufgetragen wurde. Allein das Neue des »coatings«, wie im Englischen treffend – in Anlehnung an das Wort für »Mantel« – alle deckenden Lacke heißen, hätte aber wohl nicht genügt, um in Europa das Bedürfnis nach weiteren Importen zu wecken. Und, bis heute vergeblich, nach Imitation.

Gekonnt verarbeitet, bietet Urushi einen wahrhaft betörenden Anblick, eine Verbindung von Tiefe und Glanz, die ich von keinem anderen Material kenne. Will man ihn beschreiben, kann man das von zwei Seiten versuchen, je nachdem, ob man mit diesem Anblick vertraut ist oder nicht. Es ist ja keineswegs leichter, etwas Vertrautes zu beschreiben, im Gegenteil steht das Unvertraute oft viel deutlicher vor uns, einfach weil es auffällt. So sprang mir, als wir begannen, Objekte in Urushi zu produzieren, der Unterschied zu den Schatullen und Dosen aus Holz förmlich ins Auge. Unsere Beleuchtung war auf den Bühneneffekt angelegt. Holz will angestrahlt werden, erst recht, wenn es poliert ist. Die Tiefe einer Schellackpolitur verlangt nach Licht, keinem grellen, weißen Licht, aber doch direkter Bestrahlung. Man hat dann das Gefühl, als sähe man dem Material auf den Grund, wie einem klaren See im Hochgebirge. Als ich nun das erste Mal ein mit Urushi lackiertes Stück in dasselbe Licht stellte, war das fast ein Schock. Zumindest war es eine große Enttäuschung, denn nichts von der Schönheit, die ich am Tag zuvor noch gesehen hatte, erschien. Was ich sah, war kein Schwarz, sondern ein stumpfes, blasses Grau, und das Rot erinnerte nicht an frisches Blut, sondern an das Plastik des Tesafilmabrollers. Etwas ratlos stellte ich die Lackarbeiten daraufhin in die Ecke: einen hinteren Winkel des Raumes, der nicht direkt ausgeleuchtet war. Als ich sie nach einer Weile fast unwillig wieder ansah, konnte ich es kaum glauben. Aus dem Halbdunkel heraus strahlte der Lack mich an, in einer Weise, die anziehend zu nennen eine Untertreibung wäre. Es schien, als hätte dieses Material das Vermögen, verstreutes Licht zu sammeln, um es dann verwandelt wieder auszustrahlen. Wollte man den Eindruck beschreiben, müsste man eher als »das ist rot« und »das ist schwarz« sagen: Von da kommt Rot, von dort Schwarz.

Wie erstaunt und erfreut war ich, als mir diese zufällige Wahrnehmung als Idee wiederbegegnete, als Phänomen, in dem der Schriftsteller Tanizaki Juni’chirō ein Muster für die japanische Ästhetik insgesamt erkannte:

Ich ließ also die Lampen mit Kerzenleuchtern vertauschen, denn ich war gerade wegen dieses Vergnügens hergekommen. Und bei der Gelegenheit spürte ich, wie schön die Schönheit der japanischen Lackarbeiten erst wirklich dann zur Geltung kommt, wenn man sie in solch unbestimmtes Dämmerlicht stellt. […] Es ist in der Tat berechtigt, »Dunkelheit« zu den notwendigen Bedingungen zu rechnen, wenn die Schönheit einer Lackarbeit beurteilt werden soll. Heute stellt man auch so etwas wie »Weißlack« her, doch die Oberfläche der seit alters gebräuchlichen Lacke ist schwarz, braun oder rot; es sind Farben, in denen sich »Dunkelheit« in mehreren Schichten abgelagert hat und die, so darf man annehmen, notwendigerweise aus dem Dunkel ihrer Umgebung heraus entstanden sind. Mit luxuriösen Lackmalereien versehene, hell glänzende, wachsüberzogene Toilettenkästen, Schreibpulte, Regale mögen zwar tatsächlich grell, ruhelos, ja sogar vulgär wirken; aber man tauche einmal den Raum in ihrer Umgebung in pechschwarze Dunkelheit und lasse dann anstelle des Sonnenlichts oder des elektrischen Lichts das Licht einer einzigen Altarlampe oder Kerze aufscheinen – so werden diese grellen Gegenstände alsbald Tiefe, Schlichtheit und Würde ausstrahlen. Ohne Zweifel hatten die Kunsthandwerker früherer Zeiten, wenn sie Geräte lackierten und mit Malereien versahen, solche dunklen Räume im Sinn und wollten eine Wirkung im Rahmen solch spärlicher Beleuchtung erzielen.*

Man darf die Rede von »Dunkelheit« nicht zu wörtlich verstehen. Tanizakis Polemik richtet sich nicht gegen die Helligkeit als solche, sondern gegen ihre einseitige Wertschätzung, die er – wohl nicht zu Unrecht – als ein westliches Ideal auffasst. In Auseinandersetzung mit einer Kultur, die ihre Herrscher Sonnenkönige nennt, ihre Wissenschaft Aufklärung, ihre Ausstellungsräume White Cubes, die ihre Depressionen mit Lichtduschen bekämpft und ihren Lastern mit »leuchtenden« Beispielen vorbeugt, erinnert er an das Geheimnis einer Schönheit, die sich erst im Zusammenspiel von Hell und Dunkel ergibt. Das Wortsymbol, um das sein berühmter Essay kreist, ist daher auch nicht yami, »Dunkelheit«, sondern in'ei, »Schatten«. Schauen Sie sich das Foto der schwarz-roten Lackdose an. Es ist bei Sonnenschein aufgenommen, aber ihre Strahlkraft entfaltet die Dose, weil sie unter einem Baum steht. Erst wenn das Licht diffus wird, trüb und zerstreut, wenn es stillzustehen scheint, als wäre die Luft plötzlich zur Ruhe gekommen und sichtbar geworden, wird der Urushi aktiv.

Dass die Eigenart des Urushi in China, Japan und Korea entdeckt wurde, verdankt sich einer Mischung aus Zufall und Geschick. Zufall, weil der Lackbaum (rhus verniciflua) nur in Ostasien wächst. Geschick, weil sich die Wirkung des Urushi erst nach einem langen, mehrstufigen Arbeitsprozess entfaltet.** Zunächst wird der Rohlack gewonnen, indem man die Rinde des Baums anschneidet und den austretenden Harzsaft sammelt. Bedenkt man, dass ein Baum nur etwa alle zehn Jahre angeschnitten werden kann und jeder Baum eine Ernte von selten mehr als 200 Gramm abwirft, lässt sich ermessen, wie wertvoll dieses Naturprodukt ist. Bevor er verarbeitet werden kann, muss der Rohlack von Schmutz, Insekten, Rindenstücken befreit und durch langes Rühren dehydriert und homogenisiert werden. 

Von den zahlreiche Legenden, die über den sogenannten Japanlack kursieren, werden zwei besonders häufig wiederholt. So hört man immer wieder, das Geheimnis der Tiefenwirkung liege in den »vielen Schichten«, in denen der Lack aufgetragen werde. Das stimmt so nicht, tatsächlich entsteht die Schönheit eines japanischen Lackstücks in drei aufeinander abgestimmten Arbeitsschritten: der Herstellung des Werkstücks (kiji), der Grundierung (shitaji) und der Oberflächenlackierung (uwanuri).

Dass schon der Körper, auf den später der Urushi aufgetragen wird, ein Teil des Lackierungsprozesses ist, zeigt den Unterschied zu allen sekundären Lackier- und Färbetechniken. Das ganze Handwerk wird nicht vom Gegenstand her gedacht, der durch eine Oberfläche geschützt oder verschönert werden soll – z.B. ein Auto, ein Flügel oder eine Fassade –, sondern von der Oberfläche selbst. Der Körper dient dem Lack, nicht der Lack dem Körper. Neben seinem etwaigen Gebrauchswert spielt bei der Herstellung des Kernstücks daher die Eignung für den Lackauftrag die größte Rolle. Es werden einfache, runde Formen aus glättbaren Materialien bevorzugt, auf die sich der Urushi einerseits leicht auftragen lässt, andererseits gut zur Geltung kommt. Traditionell wird der Kern meist aus Holz hergestellt, aber ebensogut eignen sich Mischungen mit hohem Leimanteil, etwa Pappmaché oder – wie bei unseren Objekten – MDF.

Der technisch wichtigste und aufwendigste Schritt ist der zweite, für den »Grundierung« eine eigentlich zu läppische Bezeichnung ist. Treffender wäre es, von der Herstellung eines Unterbaus zu sprechen. Wie sorgfältig auch immer der Korpus gebaut wurde, er könnte niemals das nötige Maß an Homogenität, Glätte und Haftkraft bieten, das eine stabile und schöne Lackoberfläche benötigt. Holz z.B. arbeitet, ist in sich unterschiedlich dicht und porös. Darum wird der Korpus so lange präpariert, bis das Ausgangsmaterial vollständig versiegelt und nicht mehr erkennbar ist. Dazu wird vor allem Paste verwendet, zu deren Herstellung man Rohlack – regional verschieden – mit bindenden Materialien wie Tonstaub, zerriebener Kohle, Gips, Baumöl oder Tierblut vermischt. Erst wenn der Unterbau getrocknet und geschliffen ist, kann die Arbeit beginnen, auf die es am Ende ankommt: die Oberflächenlackierung.

Die andere Legende bezieht sich auf diesen letzten Arbeitsschritt. Sie besagt, die Japaner seien früher zum Lackieren »auf offene See« gefahren, weil sie nur dort eine staubfreie Umgebung vorgefunden hätten. Wohl aus gutem Grund ist diese Praxis von keiner Quelle verbürgt, denn der hohe Salzgehalt der Luft und das Schwanken des Schiffes hätten die Vorteile bei weitem überwogen. Nimmt man die Legende aber als Bild, enthält sie viel Wahres. Ist die Grundierung eine zeitaufwendiges Handwerk, so erfordert die Herstellung der Oberfläche nämlich neben künstlerischem Sinn vor allem Sorgfalt. Schon während des Auftrags des pigmentierten Urushi wird peinlich genau darauf geachtet, eine möglichst homogene Oberfläche zu erzeugen. Der Lack darf nicht zu dünn aufgetragen werden, weil er sonst nicht deckend wäre, aber auch nicht so dick, dass die Schwerkraft Tropfen formt. Staubkörner, so sie sich eingeschlichen haben sollten, werden noch aus dem feuchten Lack entfernt.

Anders als bei der Grundierung, deren Zweck rein technischer Natur ist, dient die Oberfläche eines Lackstücks dem sinnlichen Vergnügen. Innerhalb der vom Material gesetzten Grenzen ist ihre Gestaltung frei. Besonders luxuriöse Lackarbeiten, die den Reichtum des Besitzers vor Augen führen sollten, waren z.B. oft dekorativ oder motivisch gestaltet: In den feuchten Lack eingestreuter Gold- oder Kohlestaub stellte Sonnenstrahlen oder Regen dar, Perlmuttbruchstücke wurden zu Mosaiken verarbeitet oder eingezogene Silberadern zu figürlichen Mustern. Die Vorbilder für unsere Lackarbeiten entstammen dagegen eher der volkstümliche Lackkunst: schlicht geformte, flächig lackierte Gebrauchsstücke mit höchstens zwei Farben. Dabei wird die Schlichtheit allerdings so weit gesteigert, dass das Ergebnis am Ende nicht mehr in erster Linie praktisch ist, sondern in einem klassisch modernen Sinne schön.

Als wichtigstes Stilmittel setzen wir dabei die Zweifarbigkeit ein, oder genauer gesagt: die Farbwirkung, die sich im Kontrast zu Schwarz ergibt. Das können Perlmuttintarsien auf schwarzem Grund sein. In der Regel aber wird es Lack sein, der auf Lack trifft, und zwar genau dort, wo Innen und Außen sich berühren. Öffnen Sie eine solche Dose, entfaltet sich die ganze Pracht der Farbe gegen die stumme Tiefe des reinen Schwarz. Geschlossen dominiert entweder die Farbe oder das Schwarz – aber an der Naht macht sich das Innere bemerkbar, als schwarzer Spalt, der ins tiefe Dunkel zieht, oder als Farbtupfer, der ins Freie drängt.

Flächige Lackierungen verlangen nach besonders sorgfältiger Nachbearbeitung. Die Tiefenwirkung der Farbe hängt nämlich vor allem von der Glätte der Oberfläche ab. Der allerletzte Schritt der Verfeinerung ist daher die Politur der getrockneten Oberfläche. Soll der Gesamtcharakter matt wirken, wählt man Schleifmittel von der Härte feinster Stahlwolle. Will man aber, wie wir bei unserem Stücken, die Farbtiefe mit einem stechenden Glanz kontrastieren, muss man zum feinsten Schleifmittel greifen, das die Natur bereitstellt: Wasser. Rechnet man die Trocknungszeiten hinzu, dauert der Produktionsprozess unserer Urushiarbeiten insgesamt etwa 90 Tage.

 

* Tanizaki Juni’chirō, Lob des Schattens [1933], Zürich 2010, S. 28

** Die Beschreibung der technischen Details folgt der besten Einführung in die Kunst des Urushi, die mir auf Deutsch bekannt ist, einem vom Museum für Lackkunst (Münster) herausgegebenen Katalogtext: Elmar Weinmayr, Nurimono. Japanische Lackmeister der Gegenwart, München 1996, S. 9-62